Ein Vorhang aus Rasierklingen
Von Hansjörg Schertenleib
Uraufführung
Der Tag, an dem ich auf der falschen Seite ins Auto einsteigen
wollte?
Als ich den linken Schuh nicht mehr binden konnte?
Als ich das Gaspedal mit der Bremse verwechselte?
Namen, Adressen und Telefonnummern hab ich früher schon
vergessen, Sonnenbrillen verlegt, Schlüssel. Hat es angefangen,
als ich gegen die Kommode lief?
Nicht mehr wusste, wie ich den Computer einschalte, eine Mail
schreibe?
Sind meine Wutanfälle das allererste Zeichen gewesen?
Die Tränen, die ich unmöglich zurückhalten konnte, wenn ich
im Lokalanzeiger das Foto einer Katze sah, die ein Zuhause
suchte?
Später hab ich aufgehört, mich an den Anfang erinnern zu
wollen.
Weil ich mich nicht mehr erinnern konnte, dass ich mich erinnern
wollte.
Première:
Donnerstag, 15. Dezember 2022, 20.00 Uhr
Samstag, 17. Dezember 2022, 20.00 Uhr
Sonntag, 18. Dezember 2022, 17.00 Uhr
Dienstag, 20. Dezember 2022, 20.00 Uhr
Tickets und Informationen: Tuchlaube, Bühne Aarau
Spiel: Werner Bodinek, Denise Hasler & Patrick Slanzi
Musik: Marco Käppeli
Regie: Damiàn Dlaboha
Text: Hansjörg Schertenleib
Dramaturgie: Béla Rothenbühler
Bühne & Kostüme: Benjamin Burgunder
LIchtdesign & Technik: Grigorios Tantanozis
Produktionsleitung: Gilda Laneve
Mit freundlicher Unterstützung von:
Aargauer Kuratorium,
Swisslos-Fonds Kanton Aargau,
Stadt Aarau,
Stadt Baden,
Kanton Solothurn,
Stiftung LEBENSRAUM AARGAU,
Landis&Gyr Stiftung,
Ernst Göhner Stiftung,
Stanley Thomas Johnson Stiftung,
Hans und Lina Blattner Stiftung,
Kulturprozent Migros Aare,
Cornelius Knüpffer Stiftung,
WaliDad Stiftung,
Jürg George Bürki-Stiftung
Der 70-jährige Arnold ist an Alzheimer erkrankt, seine Tochter will ihm keinen Raum in ihrem Leben einräumen und hat beschlossen, ihn in ein Heim für Demenzerkrankte in Thailand abzuschieben. Seine Enkelin Delia soll Arnold helfen, seine Wohnung zu räumen, deren Wände er bemalt und beschriftet hat. Arnolds Sachen sind bereits gepackt, seine Stunden in der Wohnung gezählt. Die Begegnung zwischen dem alten Mann am Ende eines langen Lebens und der jungen Frau, die am Anfang steht, öffnet Abgründe, stellt die Bedrohung ungelöster Familiengeschichten in den Raum und zeigt gleichzeitig unerwartete Gemeinsamkeiten. Sie löst Erinnerungen aus, erzählt Bruchstücke einer Biographie und wirft die Frage auf, wieviel Abweichung eine auf ‚Individualität’ getrimmte, letztlich aber konform funktionierende Gesellschaft erträgt.
Arnolds spielerischer, ja anarchistischer Umgang mit Sprache zeigt, wie ihm die Wirklichkeit, wie wir sie kennen, langsam verrutscht und entgleitet und sorgt gleichzeitig bei Delia für einen Sinneswandel. Deren Freund Blerim, der die ungleichen Verwandten im Laufe des Stücks besucht, sorgt für den Einbruch einer dritten Lebensrealität ins Stück: Einen ebenfalls mit Wohnort und Heimat hadernden Fremden, der das Abschieben des Grossvaters brachial in Frage stellt.
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Die Begegnung der Dreien löst eine zärtliche Annäherung zwischen den Generationen und Hintergründen aus und fragt, was eine Gesellschaft taugt, die Versehrte und Unangepasste ausschliesst und alten Menschen, die sich nicht an die Spielregeln halten können, die sich verweigern und an ihrem eigenen Willen festhalten, keinen Platz zugesteht? Wer kümmert sich um wen? Welchen Stellenwert haben ‚die Alten’? Und was braucht es, um seinen Lebensabend in Würde verbringen zu können? Wo befindet sich ein Zuhause? Und wem steht es zu, jemanden aus eben diesem Zuhause zu vertreiben?